Urbane Dschungelträume: Luft anhalten, radeln und Asphalt durchbrechen
Ich fahre viel Fahrrad. Ich habe es auch mit einem Auto versucht. Ich fahre nämlich gerne Auto. Vor Jahren hatte ich mal eines. Mit dem bin ich gelegentlich auf der B2 in den Leipziger Osten Richtung Völkerschlachtdenkmal gefahren. Auf Höhe der Deutschen Nationalbibliothek war ich immer völlig entnervt: Mindestens 10 Ampeln lagen schon hinter mir, unzählige weitere Autoschlangen warteten noch auf mich. Kaum hatte ich mal in den zweiten Gang geschaltet, musste ich schon wieder halten. Es war eine Tortur. Und dann diese ewige Parkplatzsuche! 99% der Zeit stand das Auto nur geparkt rum. Nach einem Jahr hatte ich auf das alles keine Lust mehr und schaffte es ab.
Der Traum ist aus – bitterer Fahrradalltag
Ich fahre also Fahrrad. Neulich bin ich mit ihm vom Leipziger Westen in den Süden gefahren. Ich malte mir eine schöne Strecke aus: Von Lindenau aus würde ich durch den Palmengarten fahren, dann über die Sachsenbrücke mit Blick aufs Wasser und durch den Clara-Park radelnd in die Südvorstadt eintauchen. Nach wenigen Minuten endete die Fahrt meiner Träume an der Kreuzung Lützner-Straße/Zschochersche-Straße und der alltägliche Wahnsinn holte mich in die Realität zurück. „Es ist laut. Es stinkt“, habe ich gedacht. Vor mir, neben mir, hinter mir düsten Autos vorbei, die Straßenbahn ratterte vor mir ihres Weges, am neugebauten Eckhaus wurde in die Mauern gebohrt. Der Park hat mir dann einige Minuten Entspannung geboten – meinem Gehör, meiner Lunge und meinen auf Graubeton getrimmten Augen. Doch meine Radeltritte trugen mich unvermeidlich zur Kreuzung Tauchnitz-Straße/Wundtstraße, wo ortskundige Autofahrer*innen auf die B2 wechseln, um der Stadt zu entkommen, die Innenstadt zu umfahren oder einfach schneller zu sein als die anderen.
Den Spitznamen „Lord Helmchen“ ertrage ich mit Sanftmut
Während ich versucht habe, nicht zu tief einzuatmen, überlegte ich, ob das schon der Berufsverkehr ist? Halb vier… War das möglich? Vielleicht fuhren hier alle Frühschichten der Leipziger Kitas an mir vorbei oder von amazon oder BMW oder den unzähligen Call Centern, die das niedrige Leipziger Lohnniveau zu schätzen wissen? Der Berufsverkehr würde sich also noch drei Stunden über diese und andere Kreuzungen Leipzigs ergießen. Wer um 9 Uhr anfängt, acht Stunden arbeiten muss und sich zwischendurch ein Mittagessen reinwürgt, der ist gegen 18 Uhr auf den Straßen unterwegs – wahrscheinlich mit einer feierabendlichen Matschbirne. Vor der habe ich Angst. Seit meine Freundin vor ein paar Jahren über das Auto geflogen ist, das sie gerammt hatte, trage ich einen Helm. Den Spitznamen „Lord Helmchen“, den mir das eingebracht hat, ertrage ich mit Sanftmut. Vor ein paar Wochen wurde dann auch mein 6-jähriges Kind auf dem Fahrrad von einem ziemlich großen SUV angefahren. Sicherlich hatte der Nebel, der sich nach Arbeitsschluss um das Gehirn legt, dazu beigetragen, dass die Fahrerin zu langsam reagiert hatte. Mein Kind wurde nicht verletzt und kam mit dem Schrecken davon. Nein, das stimmt nicht: Es kam mit Todesangst davon.
Es könnte alles so schön sein
Mit besagtem Kind fahre ich üblicherweise auf dem Fahrrad zur Kita – noch passt es auf den Kindersattel vorne. Das ist schön. Man kann den ganzen Weg quatschen. Mein Kind schimpft dann oft über Autos, denn natürlich hört es von uns Sätze wie: „Puh, das Auto stinkt.“, „Ich fahr jetzt auf dem Bürgersteig, ich komm nicht an den Autos vorbei.“ Oder „Oh, ich versteh nicht was du erzählst, die Autos sind zu laut.“ Vor einiger Zeit habe ich ihm dann gesagt: „Boah, stell dir mal vor, auf der Straße vor uns, dürften keine Autos sein.“ Da hatte ich was losgetreten! Der Asphalt brach auf, die parkenden Autos verpufften und vor uns wuchs ein tropischer Dschungel, durch den nur ein schmaler Pfad führte. Über uns verliefen Hängebrücken von Häuserdach zu Häuserdach, von denen jedes begrünt war – seltsamerweise. Als wir weiterradelten wurden wir auf der Fahrradüberholspur von ambitionierten Rennradelmüttern und -vätern überholt, die früher in der Kita sein würden als wir. Dafür warfen wir noch einen Blick auf die Menschen, die aus ihren Häusern gekrochen kamen und zwischen den grünen Häuserschluchten Federball spielten. Die Alten saßen auf öffentlichen Bänken, beschattet von üppigen Bäumen. Nervig waren die vielen Insekten, die uns plötzlich in die Augen und Nase flogen. Darum wuchs uns ein durchsichtiger Insektenschutz vorm Gesicht.
Natürlich setze ich meinem Kind keine Flausen in den Kopf: Zu unserer verkehrsbefreiten Traumstraße gehörten Elektroautos zum Teilen mit anderen, Zubringershuttles für alle mit schwerem Gepäck, Elektroräder für die nicht so Fitten, Dinosaurier am Wegesrand und Harry Potter-Zauberkräfte, mit denen der Weg beleuchtet wurde („Lumos!“). So bin ich doch noch zur Fahrt meiner Träume gekommen!
Bild: „Fountains of Vondel“ by Michael Coghlan via flickr, CC BY-SA 2.0