Serienempfehlung: „Tuca & Bertie“
Dinge, die mich begeistern, lerne ich meistens immer erst dann kennen, wenn sie für alle anderen schon ein alter Hut sind. Dieses Mal nicht! Ich habe die Ankündigung der Netflix-Serie „Tuca & Bertie“ rechtzeitig mitbekommen, um jetzt schon von ihr schwärmen zu können.
Wo soll ich anfangen? Also, es ist eine Serie, das wisst ihr ja jetzt schon. Und auch, dass sie auf Netflix läuft. Sie ist eine Zeichentrickserie, die für den Streamingdienst produziert wird. Dieser hat 2014 mit „BoJack Horseman“ seine erste Animationsserie vorgelegt. Auf den ersten Blick ähneln beide Serien einander sehr. In beiden stehen Tiere mit menschlichen Zügen im Mittelpunkt und bei den Produktionsteams gibt es personelle Überschneidungen. Doch „Tuca & Bertie“ ist keineswegs ein Abklatsch der ersten erfolgreichen Cartoonproduktion. Aber ich will der Reihe nach erklären, warum ich die Serie so großartig finde.
Eine Schlange als U-Bahn und sprechende Zimmerpflanzen
Die Handlung findet überwiegend in „Bird Town“ statt. Der Name ist Programm, denn die Stadt ist hauptsächlich von Vögeln bewohnt. Tuca (Tukan) und Bertie (Singdrossel) sind schon seit Jahren beste Freundinnen und das, obwohl – oder gerade weil – sie unterschiedlicher nicht sein könnten.
Den größeren Schnabel von beiden (bildlich und im übertragenen Sinn) hat Tuca: Sie ist aufmüpfig, ausgelassen, schrill, energiegeladen, laut, abenteuerlustig. Bertie hingegen tut sich dadurch hervor, dass sie sich nicht hervortut: Friedliebend, abwägend, still, genügsam, auf Sicherheit bedacht. Tuca kriegt oft nur durch Berties beherztes Eingreifen und Geduld ihr Leben auf die Reihe, während Bertie Tuca immer mal wieder zu ihrem Glück zwingen muss. Soweit das bekannte Muster. Was die Serie aber so besonders macht, ist ihr Einfallsreichtum. So gibt es alle möglichen Tiere als Figuren, sogar Pflanzen (Tucas Nachbarin ist eine rauchende Zimmerpflanze), aber keine Menschen. Selbst Gegenstände sind manchmal belebt und schalten sich in die Handlung ein. Auf den Schienen der U-Bahn von Bird Town verkehren Schlangen als Gefährte – wie cool ist das denn bitte? Seit dem Katzenbus aus Totoro habe ich auf Ähnliches gewartet. Erwähnenswert finde ich noch das betont Comichafte: Geräusche, Lautmalereien und einzelne Wörter können sich durchaus auch Mal in einer Szene materialisieren, um so selbst Gegenstand der Handlung zu werden. Einmal baut sich Bertie, als sie mit ihrem Auto abzustürzen droht, kurzerhand einfach eine Behelfsbrücke, in der sie immer wieder „SHIT!“ brüllt.
Absurd…
Ihr merkt schon, dass die Serie es mit der Bezugnahme auf die sogenannte Realität nicht allzu ernst nimmt. Und das ist auch gut so. Ihre Absurdität ist eine ihrer größten Stärken. Diese zeigt sich nicht nur in der Gesamtoptik der Serie (erinnert sich noch eins an Rocko’s modernes Leben?), die recht bunt und schräg daher kommt, sondern zum Beispiel daran, dass physikalische Gesetze einfach außer Kraft gesetzt werden, wo sie stören. Ähnlich wie bei Spongebob Schwammkopf werden die Gefühle der Protagonist*innen dadurch verstärkt, indem ihre Mimik a) überzogen und b) überzogen detailliert dargestellt wird. Gesellschaftliche Institutionen wie Schule, Ehe, das Bankenwesen oder Glaubensgemeinschaften, werden mit einer solchen Selbstverständlichkeit ins Absurde überführt, dass es eine Freude ist. Beispielsweise maßregelt Tuca eine Frau für falsches Benimm auf der Damentoilette mit den Worten: „You need to go back to toilet school!“ Dabei bleibt die Serie aber stets unaufgeregt, driftet nicht ins Hektische, Lächerliche oder Alberne ab und schafft es dennoch, unterhaltsam zu bleiben. Auch, wenn jede der momentan zehn Episoden für sich stehen könnte, gibt es doch einen die gesamte Staffel umfassenden Handlungsbogen. Besonders schön ist, dass immer wieder in Form von Running Gags auf bereits Geschehenes verwiesen wird. Das macht es besonders einfach, sich in Bird Town zurechtzufinden.
…aber nicht weltfremd
Bei so viel Absurdität und Phantasie muss die Serie doch bestimmt total kindisch sein, oder? Eben nicht! Wären Tuca und Bertie menschlich, würde ich sie wahrscheinlich auf so Anfang dreißig schätzen. Und auch in Bird Town sind Men…Verzeihung, Vögel dieses Alters mit bestimmten Dingen konfrontiert: Beziehungsführung auf allen erdenklichen Ebenen, dem Broterwerb, der Frage nach dem Sinn des Lebens, der eigenen Vergangenheit und den inneren Dämonen, Zukunftsängste, gesellschaftliche Missstände und und und. Das Schöne ist, dass die Protagonistinnen uns eine sehr erwachsene Sicht auf die Dinge präsentieren. Die beiden jungen Vogeldamen haben in ihrem Alltag nämlich ganz schön viel zu tun, um ihrer von Männern dominierten Umwelt etwas entgegenzusetzen. Doch trotz aller Herausforderungen schaffen sie es stets, einen Gegenentwurf zu leben: Sich gegenseitig beizustehen und zu stärken, sich nicht klein zu machen, einen positiven Bezug zum eigenen Körper zu hegen, sich Zeit und Raum nehmen, sich um sich selbst zu kümmern, Missstände ansprechen und, wo nötig, die Konfrontation suchen. Da steckt ganz schön viel kritisches Potential drin. Das wird auch verwirklicht und das, ohne auch nur einmal den gefürchteten Zeigefinger zu erheben.
Erwachsen an der Serie ist vor allem das Verhalten ihrer Figuren. Diese haben es gar nicht nötig, sich durch immer neue Tabubrüche wie Ekel-, Gewalt oder Sexszenen interessant zu machen, wie es bei anderen Zeichentrickserien (South Park, Family Guy, …) der Fall ist. Flüche haben bei „Tuca & Bertie“ noch dadurch einen Wert, dass die beiden eben nicht am laufenden Band „SHIT“ brüllen (außer, es fehlt eine Brücke, siehe oben). Wenn sie fluchen, dann weil die Situation einen Fluch erfordert. Wenn es um Sex und/oder Nacktheit geht, wovon es reichlich gibt, dann ist das stets in einem unaufgeregten und nicht effektheischerischen Setting der Fall. Tuca & Bertie entstammt der Feder (Wortwitz!) einer Frau, Lisa Hanawalt, ihre Hauptfiguren sind Frauen und wenig verwunderlich würde sie jeden Bechdel-Test spielend bestehen. Seit Daria (ihr wisst doch, früher, auf MTV, ne?) habe ich mir eine solche Serie wieder gewünscht. Nur eben ohne das Teenage-Drama. Das gibt es hier auch nicht. Tuca und Bertie leben ja schließlich nicht in der Welt von Daria Morgendorffer, sondern in ihrer eigenen. Und das, ohne dabei auch nur eine Sekunde weltfremd zu sein.