„The Wall“: Die Geschichte
Schön, dass Du hierher gefunden hast. In diesem Beitrag schauen wir uns die Geschichte etwas nĂ€her an, die auf dem 1979 von Pink Floyd veröffentlichten Album „The Wall“ erzĂ€hlt wird. Auch, wenn die Platte nun schon vierzig Jahre alt ist, hat ihre Thematik an AktualitĂ€t nichts eingebĂŒĂt. Glaubst Du nicht? Na, wir werden ja sehen. Licht! Soundeffekte ab! Action!
Der Protagonist des Albums, der Rockstar Pink, empfĂ€ngt uns nach einigen Sekunden verwirrendem, leisem Akkordeon- und Klarinettengedudel in der Midtemponummer „In the Flesh?“. Zynisch macht er dem Publikum zum Vorwurf, aus Unterhaltungssucht ein Rockkonzert zu besuchen, wĂ€hrend er sich selbst verstellen muss, um dessen Erwartungen erfĂŒllen. Aber er gibt einen Hinweis darauf, dass auch seine wahre GefĂŒhlslage verstanden werden kann und lĂ€dt die Zuhörenden auf eine Reise in sein Innerstes ein („If you wanna find out what’s behind these cold eyes you just have to claw your way through this disguise„). Mit den geschrienen Regieanweisungen „Lights! Roll the sound effects! Action! Drop it! Drop it on ‚em!“ und untermalt von SturzfluggerĂ€uschen endet der Track.
Ein schreiendes Baby ist das erste, was von „The Thin ice“ zu hören ist, noch ehe das Klavier einsetzt. Pink beginnt seine Geschichte bei seiner Geburt in eine intakte, liebevolle Familie („Mama loves her baby and Daddy loves you too„). In diesem Song wird der kaum geborene Pink vor den TĂŒcken des modernen Lebens und der Zerbrechlichkeit des GlĂŒcks gewarnt: Er solle sich nicht wundern, wenn eines Tages das dĂŒnne Eis, auf dem er sich bewegt, zerbricht. Und das passiert schon sehr bald.
Der Verlust des Vaters, der im zweiten Weltkrieg in der Schlacht von Anzio gefallen ist, wird in „Another Brick in The Wall (Part 1)“ behandelt („Daddy’s flown across the ocean, leaving just a memory„). Zum ersten Mal taucht hier das Bild der Mauer auf, in der der Tod des Vaters nur ein weiterer Stein von vielen ist. Das Gitarrensolo, mit dem der Song ausklingt, wird begleitet vom Geschrei tobender Kinder, durch das sich von HelikoptergerĂ€uschen untermalt, eine brĂŒllende MĂ€nnerstimme Bahn bricht: „Du! Ja, DU! Bleib stehen, Kleiner!“ („You! Yes, you! Stand still, laddie!„)
Erste Station: Schule
Die Stimme gehört einer der wiederkehrenden Figuren auf „The Wall“, dem Lehrer. Pink schildert in „The Happiest Days Of Our Lives“ seine Schulzeit. Der Titel ist zynisch gewĂ€hlt, da nichts an dieser ErzĂ€hlung auf glĂŒckliche Tage schlieĂen lĂ€sst. Die Lehrer, allesamt Sadisten, lieĂen nichts unversucht, um die SchwĂ€chen der Kinder bloĂzustellen – ganz egal, wie sehr diese sich auch bemĂŒhten, sie zu verbergen. Gleichzeitig wussten die Erwachsenen aber, dass dieselben Lehrer, die in der Schule ihre AutoritĂ€t grenzenlos ausspielten, zu Hause unter der Knute ihrer Frauen standen („But in the town it was well known when they got home at night their fat and psychopathic wives would thrash them within inches of their lives„). Nach den letzten Worten des Liedes ist eine tatsĂ€chlich euphorisch wirkende Bridge zu hören, die sich in Dur zum nĂ€chsten Song aufschaukelt. Und den kennen wohl wirklich alle. Nach einem Schrei beginnt „Another Brick In The Wall (pt. 2)“ mit dem bereits erwĂ€hnten „We don’t need no education„, was die Sehnsucht nach körperlicher und seelischer Unversehrtheit der Kinder in der Schule ausdrĂŒckt.
Zweite Station: Die alleinerziehende Mutter
In Pinks ErzĂ€hlung gibt es genau eine erwachsene Person, zu der er Vertrauen haben kann: seine Mutter (Track#6: „Mother“). Alles an WĂ€rme und Zuneigung, die ihm von der ĂŒbrigen Umwelt verwehrt bleiben, bekommt er von ihr. Sie wiederum, ebenfalls vom Verlust ihres Mannes gezeichnet, setzt alles daran, ihren Sohn zu behĂŒten und vor allen erdenklichen Gefahren zu schĂŒtzen („Hush now baby, baby, don’t you cry! Mother’s gonna keep baby cozy and warm„). Was in jungen Jahren angebracht erscheint, stellt sich im weiteren Zeitverlauf als einengend („Mama’s gonna check all your girlfriends for you, she won’t let anyone dirty get through) und bedrohlich heraus („Mama’s gonna wait up until you get in, Mama will always find out where you’ve been„). Umso passender, dass Pink am Anfang des Songs seine Mutter fragt, ob sie ihm dabei helfen wird, eine schĂŒtzende Mauer um ihn herum zu errichten, was diese bejaht („Of course Mama’s gonna help build the wall„). Das Ergebnis aber schĂŒchtert ihn ein („Mother did it need to be so high?„).
Dritte Station: Romantische Beziehungen
WĂ€hrend Pink heranwĂ€chst, entdeckt er die Liebe und (seine) SexualitĂ€t („Young Lust„). Es scheint, als wĂŒrde er sich auf der Suche nach Anerkennung und BestĂ€tigung von einer Bettgeschichte zur nĂ€chsten flĂŒchten. Ein Muster, das er auch als Erwachsener und nach seiner Heirat beibehĂ€lt. Exemplarisch geschildert wird das in „One Of My Turns„: Pink hat ein Groupie mit in sein Hotelzimmer genommen, zeigt sich an diesem aber eher wenig interessiert, fast so, als sei es eine reine Reflexhandlung. Ihm wird bewusst, wie bedeutungslos diese so herbeigefĂŒhrten Kurzzeitbeziehungen sind („Day after day love turns grey like the skin of a dying man„). Er Ă€rgert sich ĂŒber sich selbst und spĂŒrt, wie sich seine Stimmungsschwankungen ankĂŒndigen, die ihn dann zum ausrasten bringen („Run to the bedroom in the suitcase on the left you’ll find my favourite axe! Don’t look so frightened, this is just a passing phase, one of my bad days„). Seine Begleitung verlĂ€sst daraufhin panisch das Zimmer, was Pink in seiner Aufgebrachtheit nicht verstehen kann („Why are you running away?“).

Das Davonlaufen scheint eine wiederkehrende Erfahrung fĂŒr Pink zu sein, denn gleich im nĂ€chsten Song „Don’t leave me now“ ist zu hören, wie er immer wieder sein nicht nĂ€her benanntes GegenĂŒber auffordert, bei ihm zu bleiben. VorwĂŒrfe wie „Wie konntest Du mich verlassen, wenn Du weiĂt, wie sehr ich Dich brauche?“ oder „Wie kannst Du mich nur so behandeln!“ („How could you go when you know how I need you?“ bzw. „How can you treat me this way„) gehören ebenso zum strategischen Arsenal wie Beschwichtigungsversuche („Remember the flowers I sent you“). Doch alle diese BemĂŒhungen scheinen immer wieder gleich zu enden: Pink wird verlassen.
Das zumindest erklĂ€rt seine daraus gezogene Konsequenz, die er in „Another Brick in The Wall (Pt. 3)“ zieht: Der RĂŒckzug in GefĂŒhllosigkeit und völlige Isolation („I don’t need no arms around me!„). So verabschiedet sich Pink sinngemÀà von der grausamen Welt („Goodbye Cruel World„), der er ein fĂŒr alle Mal den RĂŒcken kehrt, um sich hinter seiner Mauer zu verschanzen. So endet die erste Platte (oder CD, je nach Medium) des Doppelalbums auch mit dem Wort „Goodbye“.
Wieder in der Gegenwart
Die zweite Scheibe wird von „Hey You“ eröffnet. Der Song, der erst ruhig und balladesk daherkommt kann als Versuch(e) der AuĂenwelt verstanden werden, mit Pink in Kontakt zu treten und ihm RatschlĂ€ge zu erteilen („Don’t give in without a fight„). Letztlich scheitern aber alle diese Versuche; die Menschen wenden sich von Pink ab und geben ihn auf („But it was only a phantasy, the wall was too high as you can see, no matter how he tried, he could not break free. And the worms ate into his brain„). WĂ€hrend das StĂŒck sich zum Dialog entwickelt, wandelt sich auch das musikalische Gewand zur klassischen Rocknummer. Zum ersten Mal ist das charakteristische Leitmotiv auĂerhalb der Another Brick In The Wall-Trilogie zu hören.Pink denkt an unterschiedliche Versuche in seinem Leben zurĂŒck, NĂ€he zu anderen Menschen zuzulassen und zu halten („Is There Anybody Out There?„). Das gleichnamige StĂŒck, dessen einzige Textzeile der Titel ist, kommt entsprechend melancholisch getragen und weitgehend instrumental daher. „Nobody Home“ schlĂ€gt in eine Ă€hnliche Kerbe. Pink erinnert sich, wie seine Kontaktaufnahmeversuche immer wieder ins Leere gelaufen sind, worĂŒber ihn sĂ€mtlicher materieller Besitz nicht hinwegtrösten kann („When I try to get through on the telephone to you – there’ll be nobody home„).

Auch Menschen, die als Bestandteil der Popkultur in Pinks Leben getreten sind und Halt und Orientierung hĂ€tten geben können, sind ĂŒber die Jahre verschwunden („Vera„). Aller Hoffnung zum Trotz ist auch der Wunsch nach einem Wiedersehen mit dem Vater unerfĂŒllt geblieben. Der Aufforderung, die Soldaten aus dem Krieg heimzuholen, wurde nicht Folge geleistet („Bring the boys back home, don’t leave the children on their own„).
WĂ€hrend Pink so sein bisheriges Leben Revue passieren lĂ€sst, klopft es an seine HotelzimmertĂŒr. Eine Stimme fordert ihn immer wieder zum Gehen auf („Time to go!„). SinngemÀà ertönt erneut die Frage „Is There Anybody Out There?“ und nach kurzer Stille beginnt der nĂ€chste Song. „Comfortably Numb“ zĂ€hlt, nicht zuletzt wegen seiner groĂartigen Gitarrensoli (vor allem das zweite!) zu den bekanntesten StĂŒcken des Albums. Die Strophen lassen sich als ĂuĂerungen eines Arzts/SanitĂ€ters verstehen, der Pink vorfindet und versucht, ihn wieder fĂŒr die BĂŒhne fit zu kriegen („Come on now, I hear you’re feeling down, I can ease your pain and put you on your feet again„). Nach einer Spritze („it’s just a little pin prick„) scheint er wieder soweit hergestellt zu sein, um mit den anderen mitzukommen („can you stand up? I do believe it’s working – good. That’ll keep you going for the show, c’mon it’s time to go!„). Pink fĂŒgt sich in sein Schicksal und ĂŒberspielt seine völlige Apathie („Where has the feeling gone?„), um dem Publikum das zu geben, was es von ihm erwartet. Das Motto lautet schlieĂlich „The Show Must Go On„. Der Hintergrundchor in diesem Song erweist im Ăbrigen dem vier Jahre zuvor veröffentlichten „Bohemian Rhapsody“, genauer gesagt: dessen Opernteil, eine Hommage.
Wenn es nach mir ginge, wĂŒrde ich euch alle erschieĂen lassen.
Zum zweiten Mal hören wir den Song „In The Flesh„. Zumindest scheinbar. Das Intro ist identisch mit dem EröffnungsstĂŒck des Albums. Auch der Text beginnt zunĂ€chst gleichlautend. Doch das Ă€ndert sich rasch. Pink macht deutlich, dass er gar nicht wirklich selbst auf der BĂŒhne steht, sondern irgendwelche anderen stellvertretend an den Instrumenten sind („I’ve got some bad news for you, sunshine: Pink isn’t well, he stayed back at the hotel and they’ve sent us along as a surrogate band we’re gonna to find out where you fans really stand„). TatsĂ€chlich stellt sich Pink eher als faschistischer Agitator vor, der all jene im Publikum an die Wand („up against the Wall„) stellen will, die nicht in sein Weltbild passen: Schwule, AnrĂŒchige, Drogenkonsument*innen, Pickelige, JĂŒdinnen und Juden, Schwarze. So ziemlich alle („If I had my way I’d have all of you shot„). In seiner Vorstellung machen er und seinesgleichen hasserfĂŒllt Jagd auf alle, die ihm im Weg stehen könnten. Ihnen rĂ€t er, besser wegzurennen, um dem angedeuteten StraĂenterror zu entgehen („Run Like hell„).
So hat Pink seine Furcht davor, verletzt zu werden, in Hass verwandelt und steigert sich in absolute Gnadenlosigkeit gegenĂŒber sich selbst und anderen hinein. Im darauffolgenden „Waiting for the Worms“ ist seine Schutzvorrichtung, seine „Mauer“ nun komplett und nichts kann ihm mehr etwas anhaben („You can not reach me now, no matter how you try„). Alles, was es dort noch zu tun gibt, ist den faschistischen SchlĂ€gern, den WĂŒrmern, freien Lauf („In perfect Isolation here behind my wall waiting for the worms to come„) und die Bewegung wachsen zu lassen („Would you like to see Britannia rule again, my friend? All you need to do is follow the worms„). WĂ€hrend das Leitmotiv zunĂ€chst von einer Soundcollage (Das Marschieren der WĂŒrmer, das BrĂŒllen des Agitators, eine „Hammer! Hammer!“ skandierende Menge) untermalt wird und dann in dieser untergeht, geht auch in Pink einiges vor.
Der LĂ€rm findet mit dem Aufschrei „Stop!“ ein abruptes Ende und nur von einem Klavierlauf begleitet ist Pink zu hören, wie er erklĂ€rt, dass er diesen Wahnsinn nicht lĂ€nger mitmacht („I wanna go home, take off this uniform and leave the show!„) und sich gleichzeitig fragt, ab welchem Punkt er sich schuldig gemacht hat („Have I been guilty all this time?„).
ReiĂt die Mauer ein!
Dies ist der Auftakt zum Finale des Albums, denn mit „The Trial“ folgt der titelgebende imaginĂ€re Gerichtsprozess gegen Pink, der auf frischer Tat dabei ertappt wurde, wie er menschliche GefĂŒhle zeigte. Nacheinander treten der Lehrer und Pinks Frau in den Zeugenstand und belasten ihn jeweils auf ihre Weise schwer. Nur seine Mutter, die ebenfalls auftritt, fleht das Gericht um Gnade fĂŒr ihren Sohn an, dem sie nur zum Vorwurf macht, sie jemals verlassen zu haben. Der Richter ist ohne jeden Zweifel von Pinks Schuld ĂŒberzeugt und möchte – buchstĂ€blich – auf ihn scheiĂen. Da er aber verstanden hat, dass es Pinks gröĂte Angst ist, seinen Mitmenschen schutzlos ausgeliefert zu sein, verurteilt er ihn zur Höchststrafe: Dem Abriss der Mauer. Die Zuschauer*innen fordern rhythmisch die Vollstreckung des Urteils („Tear down the wall!„), was am Ende des Songs auch zu hören ist. WĂ€hrend herabstĂŒrzende Steine und aufeinanderprallender Schutt langsam verhallen, leiten Klarinetten- und Akkordeongedudel „Outside the wall“ ein. Pink tritt aus dem TrĂŒmmerhaufen hervor und stellt fest, dass dort immer noch – trotz allem – Menschen sind, denen er etwas bedeutet („The ones who really love you walk up and down outside the wall„). Und wĂ€hrend die Musik langsam leiser wird, wird auch klar, dass dies genau jene Melodie war, die wir kurz vor Beginn des allerersten StĂŒcks gehört haben. Die Geschichte kann also von Neuem beginnen.
Titelbild:
„Pink Floyd guerrilla – Why Pink Floyd project“ by satoboy – is licensed under CC BY-NC 4.0
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